"Der Staat muss ganze Märkte neu erschaffen" – Seite 1

Die Wirtschaftswissenschaftlerin Mariana Mazzucato wurde durch ihr 2013 erschienenes Buch "The Entrepreneurial State" bekannt, sie ist Professorin am Institute for Innovation and Public Purpose des University College London. In ihrem neuen Buch "Mission – Auf dem Weg zu einer neuen Wirtschaft", das soeben beim Campus-Verlag erschienen ist, fordert sie eine Neuausrichtung staatlichen Handelns: Der Staat soll sich künftig klare Ziele setzen, er soll Probleme lösen.

ZEIT ONLINE: Frau Mazzucato, in Ihrem neuen Buch kritisieren Sie die mangelnde Innovationskraft der herrschenden Wirtschaftsordnung, sei es angesichts der Klimakrise oder im Kampf gegen die Corona-Pandemie. Aber passt die Wirklichkeit überhaupt noch zu Ihrer These? Inzwischen gelten ausgerechnet die erzneoliberalen Länder, die USA und Großbritannien, als Vorbilder, wenn es um das aktuell wichtigste Industrieprojekt geht – die Produktion von Impfstoff, seine Bestellung und Verteilung.

Mariana Mazzucato © Maria Mazzucato

Mariana Mazzucato: Sie zeichnen ein falsches Bild, wenn Sie nur die Impfstoffbestellung betrachten. Großbritannien hat eine der höchsten Corona-Todesraten auf der Welt. Als es um Schutzausrüstung für das Krankenhauspersonal ging, um Beatmungsgeräte, war unsere Beschaffungspolitik eine Katastrophe. Die Regierung hat zentrale Aufgaben wie das Testen nicht selbst in die Hand genommen, sondern Beratungsfirmen wie Deloitte oder KPMG damit beauftragt. Das Ergebnis war ein komplettes Desaster. Wenigstens hat man sich bei der Impfstofflogistik dafür entschieden, sie in der öffentlichen Hand zu belassen. Das war unser Glück.

ZEIT ONLINE: Warum aber sind die neoliberalen Länder ausgerechnet beim Impfen so erfolgreich?

Mazzucato: Ich will sie erst einmal bitten, in diesem Zusammenhang das Wort "neoliberal" zu vermeiden. In den USA gab es in vielen Bereichen überhaupt keine neoliberale Ordnung. Der Staat hat dort immer eine große Rolle gespielt, wenn es zum Beispiel um Forschungsförderung ging, während der Sozialstaat tatsächlich zu einer neoliberalen Schrumpfvariante zusammengekürzt wurde. Aber selbst unter Ronald Reagan wurden Innovationsprojekte mit Unsummen an öffentlichen Geldern gefördert.

ZEIT ONLINE: Dann sollten wir Reagan und Margaret Thatcher für diesen Aspekt ihrer Politik doch dankbar sein und so weitermachen. Wo sehen Sie das Problem?

Mazzucato: Das Problem ist: Geld allein reicht nicht. Auch jetzt in der Pandemie nehmen viele Staaten wieder viel Geld in die Hand – das allein ist kein Paradigmenwechsel. Nach der Finanzkrise haben die Staaten auch viel Geld ausgegeben, und es hat sich nichts verändert. Wir müssen umdenken: Der Staat muss ganze Märkte neu erschaffen. Er muss sie formen; nicht bloß regulieren, wenn sie mal versagen.

ZEIT ONLINE: Sie fordern, dass staatliche Eingriffe in Zukunft eher als Missionen gedacht werden sollen. Was bedeutet das?

Mazzucato: Industriepolitik heißt nicht, dass man eine zufällige Liste von Wirtschaftszweigen erstellt, die man unterstützen will. In Großbritannien haben sie mal gesagt: Wir fördern Luftfahrt, Autoindustrie, Finanzindustrie, Medizin und die Kreativbranche. Was soll das, warum so eine beliebige Zusammenstellung? Wählt Probleme aus, die wir lösen müssen, sei es die Klimakrise oder der demografische Wandel, und formt daraus eine Mission, an der sich alle beteiligen können!

ZEIT ONLINE: Als Vorbild dient Ihnen die US-Mondmission. Aber welchen echten Gewinn hatte es für die Menschen, dass zwei Astronauten über den Mond spazierten? Wurde hier nicht vor allem ideeller Wert produziert? Gute Bilder?

Mazzucato: Es geht nicht nur um das Ziel, sondern auch darum, was auf dem Weg dorthin passiert. Ein Blick in die Geschichtsbücher beweist, dass Staaten hoch innovativ sind, wenn sie Probleme lösen. Das Internet ist nicht erfunden worden, weil irgendwer sich überlegt hat: Wir brauchen das Internet! Sondern weil eine US-Militärforschungseinrichtung ein Problem lösen mussten: Wie können Satelliten miteinander kommunizieren? Dass wir davon heute alle privat profitieren, war gar nicht die unmittelbare Absicht.

ZEIT ONLINE: Trotzdem bleibt die Frage: Wer entscheidet darüber, ob irgendwo echter Wert entsteht oder nur der Anschein von Wert? Wie viele andere kritisieren auch Sie die Finanzindustrie, weil man dort kaum zu tatsächlicher Wertschöpfung beitrage. Aber anhand welcher Kriterien bemessen Sie das?

Mazzucato: Die Finanzindustrie bewegt zu oft Vermögenswerte nur hin und her und verdient damit sehr gut. Mit Volatilität machen die ihr Geld, sie kaufen billig und verkaufen teuer.

ZEIT ONLINE: Was ist schlimm daran, dass Banken Kapital bewegen? Das ist schließlich ihr Zweck.

Mazzucato: Aber die Frage ist: Werden mit diesen Mitteln neue Strukturen, neue Produktionskapazitäten aufgebaut? Eine widerstandsfähige Wirtschaft? Nein, das passiert nicht. All die angeblich so innovativen Finanzprodukte haben überhaupt keine Aktivierung der Realwirtschaft nach sich gezogen. Sie führen zu Profiten ohne Produktion. Aber vergessen Sie einmal kurz die Banken. Es gibt ein vielleicht noch größeres Problem: Auch die Realwirtschaft hat sich finanzialisiert. Beispielsweise werden Gewinne gar nicht in die Forschung und Entwicklung investiert, sondern in große Aktienrückkaufprogramme, die den Aktienkurs in die Höhe treiben. Es geht mir nicht darum, auf die böse, böse Finanzindustrie einzuprügeln. Das ist mir zu einfach, das ist so eine linke Wohlfühlmeinung: Ach, Hedgefonds sind so schlimm, oje! Nein, das ganze System ist inzwischen finanzialisiert worden. Dagegen müssen wir vorgehen.

ZEIT ONLINE: Sie kritisieren in Ihrem neuen Buch die sogenannte theory of public choice. Sie dient als Argumentationsgrundlage für alle, die dem Staat seine Handlungsfähigkeit absprechen wollen. Von welchen Annahmen geht diese Theorie aus?

Mazzucato: Hier trägt der sogenannte Neoliberalismus tatsächlich die Schuld. Die neoliberalen Ökonomen der Chicago School haben stets ihre theory of public choice ins Feld geführt, wenn es darum ging, dass der Staat nur eine sehr begrenzte Rolle spielen sollte. Der Kern ihrer Überlegung: Jedes staatliche Handeln zieht ein strukturelles Korruptionsrisiko nach sich, weil auch die Vertreter des Staats nur ihren eigenen Nutzen maximieren – also ihre Macht. Die interessieren sich nur dafür, wiedergewählt zu werden! Deswegen führen ihre kurzfristig gedachten Entscheidungen zu Staatsversagen, und Staatsversagen ist noch schlimmer als Marktversagen. Also macht bitte so wenig Staat wie möglich! Das war die Idee der theory of public choice. Das Problem ist: Effizienz wurde hier so definiert, wie auch die Privatwirtschaft Effizienz definiert. Man hatte also gar keinen Begriff von public value, von öffentlichem Wert. Es gab keine dynamischen Maßstäbe, um die Wirksamkeit von staatlichem Handeln tatsächlich zu erfassen.

ZEIT ONLINE: Haben wir dieses allzu staatsfeindliche Denken inzwischen nicht hinter uns gelassen?

"Die Frage ist: Wie misst man Effizienz?"

Mazzucato: Nein, dieses Denken prägt bis heute, wie in den USA Beamte ausgebildet werden. Wenn man sich die Lehrpläne anschaut für einen Master in Public Administration, einen Studiengang, der auf die Arbeit in der öffentlichen Verwaltung vorbereitet, dann findet man dort, anders als bei einem Master in Business Administration, nichts zu strategischem Management oder ähnlichen Themen. Klar, wenn man dem Staat als alleinige Rolle zuschreibt, im besten Fall mal ein Marktversagen zu beheben; wenn es nur darum geht, die vorhandenen Mittel gelegentlich umzuverteilen, um den Armen zu helfen – dann braucht man solche Fähigkeiten natürlich nicht im Regierungsapparat. Dann braucht man da keine kreativen, dynamischen Beamten.

ZEIT ONLINE: Was ist eigentlich das Problem an den sogenannten neoliberalen Maßstäben? Effizienz ist doch besser als keine Effizient, ob auf dem Markt oder in einer Planwirtschaft. Auch den Klimawandel muss man effizient bekämpfen.

Mazzucato: Natürlich brauchen wir Maßstäbe für Effizienz. Ich habe vier Kinder zu Hause, selbst ich brauche hier Effizienz, sonst würden wir im Chaos versinken. Die Frage ist: Wie misst man Effizienz? Wenn der Staat die Märkte wirklich formt, dann muss man alles messen, was er da bewirkt, einschließlich all der positiven Nebenwirkungen, die bis in weit entfernte Branchen sich ergeben. Die Mondmission hat so viele Innovationen nach sich gezogen, selbst in der Ernährungsindustrie. Dass es überhaupt so etwas gibt wie eine Softwareindustrie, das war eine Folge der Mondmission! All das übersieht man aber, wenn die Messwerkzeuge nur statische Ergebnisse erfassen und nur in einem Marktsegment. Niemand wäre zum Mond geflogen, wenn man schlicht eine Kosten-Nutzen-Rechnung aufgemacht hätte. Das Risiko wäre viel zu hoch gewesen. John F. Kennedy hat damals gesagt: Wir fliegen zum Mond, nicht weil das einfach ist, sondern gerade weil das eine schwierige Aufgabe ist!

ZEIT ONLINE: Wieso sollten sich solche verlagerten Effekte nicht mit den neoliberalen Messmethoden erfassen lassen? Wenn irgendwo Wertschöpfung stattfindet, fällt das schon auf.

Mazzucato: Nur wenn die Wertschöpfung sich verkaufen lässt. Im Bruttoinlandsprodukt zum Beispiel finden Sie nur jene Produkte und Dienstleistungen, die einen Preis haben. Die Produktivität mancher Bereiche können wir also gar nicht messen, zum Beispiel die unseres kostenlosen Bildungssystems. Sie können zwar angeben, wie viel Geld da reinfließt, also was Lehrer kosten und Schulgebäude. Aber keiner weiß, welchen Preis diese Leistung erzielen würde, würde man sie verkaufen. Das Gleiche gilt für das Gesundheitssystem. Hier brauchen wir neue Maßstäbe, wie wir solche Wertschöpfung quantitativ erfassen können. Nehmen Sie die sogenannte Care-Arbeit, Feministinnen sprechen darüber schon lange: Wenn Sie Ihr Kindermädchen heiraten, sinkt das Bruttoinlandsprodukt! Denn plötzlich ist eine Dienstleistung, für die bisher bezahlt wurde, kostenlos – und damit angeblich nichts mehr wert. Das ergibt keinen Sinn.

ZEIT ONLINE: Auf der einen Seite fordern Sie, dass echte Wertschöpfung im Bruttoinlandsprodukt besser abgebildet werden soll. Auf der anderen Seite wollen Sie, dass Wertschöpfung eben nicht mehr mit dem Preis gleichgesetzt wird. Ist das nicht ein Widerspruch? Wollen Sie mehr Kommodifizierung – oder weniger?

Mazzucato: Das ist kein Widerspruch, wir brauchen beides gleichzeitig. Wir müssen Leistungen zumindest virtuell bepreisen, die wir bisher nicht bepreist haben, sei es unbezahlte Care-Arbeit oder das Bildungssystem. Sonst übersehen wir im Bruttoinlandsprodukt, wo tatsächlich die Wertschöpfung stattfindet. Gleichzeitig müssen wir das Gesamtbild im Auge behalten.

ZEIT ONLINE: Wer das Bild zu weit fasst, dem erscheint am Ende jede staatliche Investition irgendwie als sinnvoll. Hauptsache, der Staat macht irgendwas?

Mazzucato: Nein. Helikoptergeld verteilen oder Investitionen in irgendwelche Infrastrukturprojekte, das reicht nicht. Man braucht eine sehr klare Vorstellung davon, welche Infrastruktur da gebaut werden soll. Wir müssen wissen: Tun wir da etwas Vernünftiges oder speisen wir nur sehr viel Zement und Ziegelsteine ein ins System, weil die Zinsen gerade niedrig sind? Dann machen wir nichts anderes, als die Leute einfach Löcher graben zu lassen, die sie wieder zuschütten – um mal John Maynard Keynes zu zitieren. Das ist nicht meine Vorstellung von staatlicher Investition. Wir müssen messen, wie viel public value, wie viel öffentlichen Wert wir schöpfen. 

ZEIT ONLINE: Auch dieser Begriff ist schwer zu fassen. Was genau heißt "public value"?

Mazzucato: Wir sollten zuerst einmal anerkennen, dass Wert gemeinsam geschöpft wird. Volkswirte sind zu lange davon ausgegangen, dass Wertschöpfung in Unternehmen stattfindet und der Staat korrigiert höchstens mal ein bisschen. Ich glaube: Wertschöpfung findet statt, wenn Staat und Privatsektor zusammenarbeiten. Selbst Gewerkschaften sind Orte der Wertschöpfung. Das Wochenende, der Acht-Stunden-Tag, das Verbot von Kinderarbeit, das alles hat die Märkte, die wir heute haben, erst geschaffen. Das ist sozusagen alles Teil der Wertschöpfungskette.

ZEIT ONLINE: Das bringt uns zurück zur Frage: Wer entscheidet, ob die Mondmission oder das Internet von öffentlichem Wert sind oder nicht? Oder der grüne Umbau unserer Industrie? Der Preis, den man auf dem Markt erzielt, greift als Kriterium viel zu kurz, sagen Sie. Aber was bleibt uns dann? Unsere bloße Haltung? Wir finden das gut? Andere finden vielleicht andere Sachen gut!

Mazzucato: Natürlich. Auch Donald Trump hätte sich beim Bau der Mauer auf seine Vorstellung von öffentlichem Wert berufen können. Der bemisst sich dann daran, wie viele Mexikaner am Grenzübertritt gehindert werden. Wenn wir einfach nur irgendeinen öffentlichen Wert als Maßstab nehmen, dann hilft uns das nicht bei der Antwort auf die Frage: Sollen wir unsere Wirtschaftsordnung nachhaltig umbauen oder nicht? So eine Frage müssen wir natürlich demokratisch entscheiden.

ZEIT ONLINE: Aber wie hilft der Begriff "public value" dann überhaupt – wenn sich jeder auf diese Idee berufen kann?

Mazzucato: Wenn man einmal mit seiner Zukunftsvision eine Wahl gewonnen hat, dann stellt sich die Frage: Wie muss der Staat sich aufstellen, um das Versprechen auch umzusetzen? Hier brauchen wir entsprechende Werkzeuge, darunter diesen Begriff. Mir geht es also um einen objektiven, aber nicht um einen normativen Maßstab. Mir geht es darum, dass wir besser verstehen und messen können, wer tatsächlich in einem gemeinsamen Prozess welche Werte schöpft.

ZEIT ONLINE: Wert ist also für Sie gar kein normativer Begriff? Das klingt paradox.

Mazzucato: Sie dürfen diesen Wertbegriff jedenfalls nicht mit einer moralischen Kategorie verwechseln. Sie können auch schlechte Wertschöpfung betreiben. Wenn die US-Regierung in Fracking investiert, dann ist das zweifellos Wertschöpfung, bloß halten wir diese Form der Wertschöpfung für moralisch falsch. Der zweite, der tatsächlich normative Schritt wäre also, die Wertschöpfung so zu steuern, dass wir tatsächlich eine bessere Welt möglich machen. Aber diese Entscheidung über den grundsätzlichen Kurs ist nicht Aufgabe von Ökonomen, sondern Aufgabe der Politik.